Geschichte der Extraterrestrischen Physik in Kiel

Vorgeschichte

Die Abteilung Extraterrestrische Physik ist hervorgegangen aus der gleichnamigen Abteilung des ehemaligen Instituts für Reine und Angewandte Kernphysik der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel.

Dieses Institut war am 1. April 1957 von Erich Bagge gegründet worden zu einer Zeit, da die friedliche Nutzung der Kernenergie sich in Deutschland entwickelte. Der Grundstein für das Institutsgebäude ist am 8. Juli 1958 gelegt worden. Durch Prof. Bagge bestand von Anfang an eine enge Verbindung mit dem Forschungsreaktor Geesthacht, der später durch die Gesellschaft für Kernenergieverwertung in Schiffbau und Schiffahrt (GKSS) als Trägerorganisation betrieben wurde.

Hervorzuheben ist eine strukturelle Neuerung, die Bagge bei der Gründung des neuen Instituts an der Kieler Universität einführte: Zur Entlastung der Wissenschaftler von administrativen Arbeiten erhielt das Institut eine eigene Verwaltung, die von einem Verwaltungsfachmann geleitet wurde. Sie hat sich sowohl intern wie insbesondere auch extern bei internationalen Forschungsauträgen bewährt, zu deren Erfüllung zunehmend komplexere Verwaltungsaufgaben gehören.

Unvergessen ist die anregende kameradschaftliche Atmosphäre zwischen Lehrenden und Lernenden, in der auch konstroverse wissenschaftliche Fragen intensiv und konstruktiv diskutiert werden konnten. Der Zusammenhalt des gesamten Instituts - Werkstatt, Verwaltung, Techniker und Wissenschaftler bis hin zum Hausmeister - hatte unter Bagge fast familiären Charakter entwickeln können, was sich u. a. in zahlreichen gemeinsamen Festveranstaltungen, insbesondere auch im Hause Bagge, offenbarte.

Neben Fragen der Kernenergienutzung zeigten Bagges Assistenten Allkofer, Köhn, Pinkau, Röhrs, Trümper, Wibberenz und Willkommm bereits relativ früh ein aktives Interesse an der kosmischen Strahlung und entwickelten experimentelle Methoden zu ihrer Erforschung. Entsprechende Instrumente wurden zunächst in Bergeshöhen, später am Rand der Atmosphäre als Nutzlasten an Stratosphärenballons und in Forschungraketen eingesetzt. Unter der Leitung von Bagge und Wibberenz war die Arbeitsgruppe mit Geräten an den ersten deutschen Erdsatelliten AZUR und DIAL zur Erforschung des Strahlungsgürtels der Erde beteiligt. Es folgte ein Einsatz auf den international betriebenen Satelliten ISEE I und II.

Ein weiterer Höhepunkt der Forschungsarbeit war die Beteiligung an der deutsch-amerikanischen Mission HELIOS, bei der zwei 1974 und 1976 gestartete interplanetare Sonden sich der Sonne bis auf weniger als ein Drittel des Erdbahnradius der Sonne näherten und die Beschleunigungs- und Ausbreitungsmechanismen solarer energiereicher Teilchen untersuchen sollten. Die ursprünglich nur für neun Monate geplante Mission konnte wegen der guten Qualität aller Komponenten auf elf Jahre verlängert werden, und hat so fast über einen vollen Aktivitätszyklus der Sonne eine wertvolle Kombination von Teilchen-, Magnetfeld- und Plasmadaten geliefert.

Nach den Beteiligungen an der Erforschung der Erdmagnetosphäre bedeutete die Erforschung des unteren Randes des Strahlungsürtels des Jupiters mit einem Teilchenspektrometer an Bord der GALILEO-Probe im Dezember 1995 einen weiteren Erfolg der Kieler Arbeitsgruppe. Es wurde erstmals der Einfluß des Jupiter-Staubringes auf die Teilchenpopulation in unmittelbarer Nähe der Jupiter-Atmosphäre gemessen.

Ein weiterer Erfolg der experimentellen Einsätze der Arbeitsgruppe war die Beteiligung an der internationalen Mission ULYSSES, bei der Kieler Teilchendetektoren neben Instrumenten anderer Institute auf eine Bahn senkrecht zur Ekliptikebene gebracht wurden, in einen Bereich des Weltraums, der bis dahin noch nie von Raumflugkörpern erreicht worden war. Erstmals konnte so durch in-situ-Messungen die dreidimensionale Struktur der Heliosphäre direkt untersucht werden.

Die Arbeitsgruppe Extraterrestrische Physik ist weiterhin mit einem Teilchendetektorsystem auf der Raumsonde SOHO vertreten, die der Sonnenbeobachtung dient. Ein gleichartiges Kieler Instrument dient als Strahlungsmonitor auf dem Röntgenteleskop CHANDRA dazu, anzuzeigen, wann zu dessen Schutz vor Teilchenstrahlung geignete Maßnahmen ergriffen werden müssen.

Teil der Abteilung Extraterrestrische Physik war und ist das Labor für Kernspurtechnologie. Es hat in zahlreichen Weltraumexperimenten, z. B. auf Spacelab 1 (1983) und dem NASA-Satelliten LDEF (1984-1990) schwere Ionen der kosmischen Strahlung in der Erdmagnetosphäre untersucht, und zwar insbesondere die Ladungszustände der anomalen und der solaren Komponente sowie ihr Einfang in das Erdmagnetfeld. Mit Plastikfoliendetektoren zur Bestimmung von Teilchenbahnen beteiligte sich das Labor seit den Missionen Apollo 16 und  17 (1972) an biologischen Weltraumexperimenten (Biostack). Hierbei wurde die Wirkung schwerer Kerne der kosmischen Strahlung auf biologische Objekte unter Schwerelosigkeit sowie die Gesamtstrahlenexposition im Raumfahrzeug gemesssen.

Neustrukturierung des Fachbereichs Physik

Im Herbst 1997 wurde der Fachbereich Physik der Kieler Universität umstrukturiert: Die bisherigen fünf Institute für wurden aufgelöst, und es wurden an ihrer Stelle die beiden neuen Institute für gegründet. Aus dem bisherigen Institut für Reine und Angewandte Kernphysik wurde die Arbeitsgruppe Extraterrestrische Physik als ganzes in das Institut für Experimentelle und Angewandte Physik übernommen.